Der Schatten (H. C. Andersen)
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Der Schatten – Märchen
Hörspiel zum Märchen
Hans Christian Andersen – Der Schatten – Märchen Hörbuch
Kurzinhalt / Zusammenfassung
Ein gelehrter Mann schickt seinen Schatten in ein geheimnisvolles Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite. So erhofft er sich, mehr über die Bewohner des Hauses zu erfahren, die er nie zu Gesicht bekam. Doch sein Schatten kehrte nicht zurück. Aber glücklicherweise wuchs ihm ein neuer. Erst viele Jahre später erhielt er Besuch von einem Fremden, der sich als sein menschgewordener Schatten ausgab. Von ihm erfuhr er, dass das wundersame Haus auf der anderen Seite damals, der Poesie gehörte.
Der Schatten lud den gelehrten Mann auf eine Reise ein. Mehr und mehr dominierte der Schatten und ließ den gelehrten Mann selbst zum Schatten werden. Als dann die Hochzeit des Schattens mit der Königstochter anstand, wollte der Mann nicht mehr schweigen. Jedoch glaubte ihm keiner und er wurde noch vor der Hochzeit ins Gefängnis gesperrt und hingerichtet.
Interpretation / Analyse
Das Kunstmärchen Der Schatten von H. C. Andersen enthält Elemente persönlicher Erfahrung Andersens. Damit wird die düstere Stimmung der gesamten Geschichte verständlich, wenn man weiß, wie kritisch sein Blick als Außenseiter auf die Welt und die Menschen war. Der Schatten war das gelebte Gegenteil der Charakterzüge des gelehrten Mannes. Er war angeberisch und sprach viel, ohne etwas zu sagen. Erpressung nutze er, indem er sich der Angst der Menschen bediente, um an sein Vermögen zu kommen. Und er ist sehr neidisch. Denn er will sich selbst eines Schattens habhaft machen. All seine schlechten Eigenschaften verhelfen ihm letztendlich zum Erfolg. Die Gutmütigkeit des gelehrten Mannes bedeutete seinen Tod.
Details
Der Originaltext ist dem Google Book Sämtliche Märchen von Hans Christian Andersen (1835-37, 3 Bände) entnommen. Auch zu finden ist das Kunstmärchen lizenzfrei auf Gutenberg.org. Das Hörspiel stammt von LibriVox. Denn ebenso wie der originale Märchentext, ist auch das dazu vertonte Hörbuch gemeinfrei.
Märchen / Text
In den heißen Ländern brennt die Sonne ganz gewaltig, die Leute werden ganz mahagonibraun, ja in den allerheißesten Ländern werden sie zu Negern gebrannt. Aber es war bloß nach den heißen Ländern, wohin ein gelehrter Mann von den kalten gelangt war; der glaubte nun, daß er dort ebenso herumgehen könne, als daheim, das wurde ihm aber bald abgewöhnt. Er und alle vernünftigen Leute mußten zu Hause bleiben, die Fensterladen und Thüren waren den ganzen Tag über geschlossen; es sah aus, als ob das ganze Haus schlafe oder niemand zu Hause sei.
Die schmale Straße mit den hohen Gebäuden, wo er wohnte, war nun auch so gebaut, daß die Sonne vom Morgen bis Abend hineinschien; es war wirklich nicht auszuhalten! – Der gelehrte Mann aus dem kalten Lande war ein junger, ein kluger Mann, es kam ihm vor, als säße er in einem glühenden Ofen; das griff ihn so an, daß er ganz mager wurde, selbst sein Schatten schrumpfte zusammen, der wurde viel kleiner, als er daheim war, die Sonne nahm auch den mit. – Sie lebten erst am Abend auf, wenn die Sonne untergegangen war.
Es war eine Freude, es mit anzusehen. Sobald das Licht in das Zimmer gebracht wurde, streckte der Schatten sich ganz gegen die Wand hinauf, so lang machte er sich; er mußte sich strecken, um wieder zu Kräften zu gelangen. Der Gelehrte trat auf den Altan, um sich dort zu strecken, und sobald die Sterne in der herrlichen Luft erschienen, dann war es ihm, als ob er wieder auflebte. Auf allen Altanen in der Straße – und in den warmen Ländern hat jedes Fenster einen Altan – kamen Leute zum Vorschein, denn Luft muß man haben, selbst wenn man gewöhnt ist, mahagonibraun zu sein!
Es wurde lebendig oben und unten. Schuhmacher und Schneider, alle Leute zogen auf die Straße, da kamen Tisch und Stuhl, und das Licht brannte, ja über tausend Lichter brannten, und der eine sprach zum andern und sang, und die Leute spazierten, die Wagen fuhren, Maultiere gingen: klingelingeling, denn sie trugen Glocken. Da wurden Leichen mit Gesang begraben, die Straßenjungen brannten Sprühteufelchen ab, und die Glocken läuteten, ja es war recht lebendig unten auf der Straße. Nur in dem einen Hause, welches dem, worin der fremde, gelehrte Mann wohnte, gerade gegenüber lag, war es ganz stille, und doch wohnte da jemand, denn es standen Blumen auf dem Altan, die wuchsen üppig in der Sonnenhitze, und das konnten sie nicht, wenn sie nicht begossen werden, und jemand mußte sie doch begießen; Leute mußten also da sein.
Die Thür da drüben wurde auch gegen Abend geöffnet, aber es war finster da drinnen, wenigstens im vordersten Zimmer, tiefer hinein ertönte Musik. Dem fremden, gelehrten Mann schien dieselbe außerordentlich schön zu sein, aber es war auch möglich, daß er sich das nur einbildete, denn er fand alles vortrefflich da draußen in den warmen Ländern, wenn nur die Sonne nicht so sehr gebrannt hätte. Der Wirt des Fremden sagte, daß er nicht wisse, wer das gegenüberliegende Haus gemietet habe, man erblicke ja keine Leute, und die Musik hielt er für langweilig. Es sei gerade, als ob jemand säße und ein Stück übe, das er doch nicht herausbringen könne, immer dasselbe Stück. »Ich bekomme es doch heraus!« meint er, aber es gelingt nicht, so lange er auch spielt.Einmal nachts erwachte der Fremde, er schlief bei offener Altanthür, der Vorhang vor derselben wurde durch den Wind gelüftet, und es war ihm, als ob ein wunderbarer Glanz vom gegenüberliegenden Altan käme, alle Blumen leuchteten wie Flammen in den herrlichsten Farben, und mitten unter den Blumen stand eine schlanke, liebliche Jungfrau, es war, als ob sie auch leuchtete. Es blendete ihm förmlich die Augen, er riß sie aber auch gewaltig weit auf und kam eben aus dem Schlaf. Mit einem Sprung stand er auf dem Fußboden, ganz leise schlich er hinter den Vorhang, aber die Jungfrau war fort, der Glanz war fort; die Blumen leuchteten gar nicht, sondern standen sehr gut, wie immer, die Thür war angelehnt und tief aus dem Innern erklang Musik, so lieblich und schön, daß man wirklich in süße Gedanken dadurch versenkt werden konnte. Es war doch wie ein Zauber, und wer wohnte da? Wo war der eigentliche Eingang? Im ganzen Erdgeschoß war Laden an Laden, und da konnten die Leute doch nicht immer hindurchlaufen.
Eines Abends saß der Fremde draußen auf seinem Altan, im Zimmer hinter ihm brannte Licht, und deshalb war es ganz natürlich, daß sein Schatten auf die gegenüberliegende Wand fiel, ja, da saß er gerade drüben zwischen den Blumen auf dem Altan; und wenn der Fremde sich bewegte, so bewegte sich der Schatten auch, denn das thut er. –
»Ich glaube, mein Schatten ist das einzige Lebendige, was man da drüben erblickt!« sagte der gelehrte Mann. »Sieh, wie hübsch er zwischen den Blumen sitzt, die Thür ist halb angelehnt, und nun sollte der Schatten so pfiffig sein und hineingehen, und dann zurückkehren und mir erzählen, was er dort erblickt hat! Ja, Du solltest Dich nützlich machen!« sagte er im Scherz. »Gehe gefälligst hinein! Nun, wirst Du gehen?« und dann nickte er dem Schatten zu, und der Schatten nickte wieder. »Nun so gehe, aber bleibe nicht ganz fort!« Der Fremde erhob sich, und sein Schatten auf dem gegenüberliegenden Altan erhob sich auch, der Fremde kehrte sich um, und der Schatten kehrte sich auch um, ja, wenn jemand genau darauf geachtet hätte, so würde er deutlich haben sehen können, daß der Schatten in die halb offene Altanthür des gegenüberliegenden Hauses hineinging, gerade wie der Fremde in sein Zimmer hineintrat und den langen Vorhang hinter sich fallen ließ.
Am folgenden Morgen ging der gelehrte Mann aus, um Kaffee zu trinken und Zeitungen zu lesen. »Was ist das?« sagte er, als er in den Sonnenschein kam, »ich habe ja keinen Schatten! Also ist er wirklich gestern Abend fortgegangen und nicht zurückgekehrt; das ist doch recht unangenehm!«
Und es ärgerte ihn, doch nicht so sehr, daß der Schatten fort war, sondern weil er wußte, daß es eine Geschichte giebt von einem Manne ohne Schatten, diese kannten ja alle Leute daheim in den kalten Ländern, und käme nun der gelehrte Mann dorthin und erzählte die seine, so würde man sagen, daß er nur nachzuahmen suche und das brauchte er nicht. Deshalb wollte er gar nicht davon sprechen, und das war vernünftig gedacht.
Am Abend ging er wieder auf seinen Altan hinaus, das Licht hatte er ganz richtig hinter sich gestellt, denn er wußte, daß der Schatten immer seinen Herrn zum Schirm haben will, aber er konnte ihn nicht hervorlocken. Er machte sich klein, er machte sich groß, aber es kam kein Schatten wieder. Er sagte: »Hm! hm!« aber es half nichts.
Ärgerlich war es, aber in den warmen Ländern wächst alles geschwind, und nach Verlauf von acht Tagen bemerkte er zu seinem großen Vergnügen, daß ihm ein neuer Schatten von den Beinen aus wuchs, sobald er in den Sonnenschein kam; die Wurzel mußte sitzen geblieben sein. Nach drei Wochen hatte er einen ganz leidlichen Schatten, der, als er sich heim nach den nördlichen Ländern begab, auf der Reise mehr und mehr wuchs, sodaß er zuletzt so lang und so groß war, daß es an der Hälfte genug gewesen wäre.
So kam der gelehrte Mann nach Hause, und er schrieb Bücher über das, was wahr ist in der Welt, und über das, was gut und was schön ist, und so verstrichen Tage und Jahre; es vergingen viele Jahre.
Da sitzt er eines Abends in seinem Zimmer und da klopft es ganz sacht an die Thür.
»Herein!« sagt er, aber es kommt niemand, da öffnet er die Thür, und da stand ein außerordentlich magerer Mensch vor ihm, sodaß es ihm ganz sonderbar wurde. Übrigens war der Mensch sehr fein gekleidet, es mußte ein vornehmer Mann sein.
»Mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?« fragte der Gelehrte.
»Ja, das dachte ich wohl,« sagte der feine Mann, »daß Sie mich nicht erkennen würden! Ich bin so viel Körper geworden, ich habe ordentlich Fleisch und Kleider bekommen! Sie haben wohl nie daran gedacht, mich in solchem Wohlstand zu erblicken. Kennen Sie ihren alten Schatten nicht? Ja, Sie haben sicher nicht geglaubt, daß ich je wiederkommen würde. Mir ist es außerordentlich wohl ergangen, seitdem ich das letzte Mal bei Ihnen war, ich bin in jeder Hinsicht sehr vermögend geworden. Wenn ich mich vom Dienst freikaufen will, so kann ich es!« Dabei klapperte er mit einem ganzen Bund kostbarer Petschafte, die an der Uhr hingen, und er steckte seine Hand in die dicke, goldene Kette, die er um den Hals trug; wie blitzten alle Finger von Diamantringen! Und das war alles echt.
»Nein, ich kann mich gar nicht erholen!« sagte der gelehrte Mann, »was bedeutet dieses alles?«
»Ja, es ist nichts Gewöhnliches!« sagte der Schatten, »aber Sie gehören ja selbst nicht zu den Gewöhnlichen, und ich, das wissen Sie wohl, bin von Kindesbeinen an in Ihre Fußtapfen getreten. Sobald Sie fanden, daß ich reif war, um allein in die Welt hinauszugehen, ging ich meinen eigenen Weg. Ich befinde mich in der besten Lage, aber es befiel mich eine Art von Sehnsucht, Sie einmal zu sehen, bevor Sie sterben, Sie müssen ja sterben! Auch wollte ich diese Länder gern wiedersehen, denn man liebt das Vaterland doch immer! – Ich weiß, Sie haben einen andern Schatten wieder erhalten, habe ich demselben oder Ihnen etwas zu bezahlen? Haben Sie nur die Güte, es zu sagen.«
»Nein, bist Du es wirklich?« sagte der gelehrte Mann, »das ist doch höchst merkwürdig! Nie hätte ich geglaubt, daß ein alter Schatten als Mensch wiederkommen könne!«
»Sagen Sie mir, was ich zu bezahlen habe!« sagte der Schatten, »denn ich will nicht gern jemandes Schuldner sein.«
»Wie kannst Du so sprechen!« sagte der gelehrte Mann, »von Schuld kann hier nicht die Rede sein! Sei so frei wie irgend einer! Ich freue mich außerordentlich über Dein Glück! Setze Dich, alter Freund, und erzähle mir nur, wie sich alles zugetragen, und was Du dort in den warmen Ländern in dem gegenüberliegenden Hause erblickt hast!«
»Ja, das werde ich Ihnen erzählen,« sagte der Schatten, und setzte sich nieder, »aber dann müssen Sie mir auch versprechen, daß Sie nie jemand hier in der Stadt, wo Sie mich auch treffen mögen, sagen, daß ich Ihr Schatten gewesen bin! Ich beabsichtige mich zu verloben; ich kann mehr als eine Familie ernähren!« –
»Sei ganz ruhig,« sagte der gelehrte Mann, »ich werde niemand sagen, wer Du eigentlich bist! Hier ist meine Hand! Ich verspreche es, und ein Mann, ein Wort!«
»Ein Wort, ein Schatten!« sagte der Schatten, denn so mußte er sprechen.
Es war übrigens wirklich merkwürdig, wie sehr er Mensch war. Er war ganz schwarz gekleidet und in das allerfeinste schwarze Tuch, hatte glänzende Stiefel und einen Hut, den man zusammendrücken konnte, sodaß er nichts als Deckel und Krempe war, nicht zu gedenken, was wir schon wissen, der Petschafte, der goldenen Halskette und der Diamantringe; ja, der Schatten war außerordentlich gut gekleidet, und das war es gerade, was ihn zu einem ganzen Menschen machte.
»Nun werde ich erzählen!« sagte der Schatten, und dann setzte er seine Beine mit den Stiefeln, so fest er konnte, auf den Arm des neuen Schattens des gelehrten Mannes nieder, der wie ein Pudel zu seinen Füßen lag, und das geschah nun entweder aus Hochmut, oder vielleicht, daß derselbe daran hängen bleiben sollte. Aber der liegende Schatten verhielt sich ganz still und ruhig, um recht zuzuhören, er wollte wohl auch wissen, wie man so loskommen und sich zu seinem eigenen Herrn aufdienen könne.
»Wissen Sie, wer in dem gegenüberliegenden Hause wohnte?« sagte der Schatten, »es war das Schönste von allem, es war die Poesie! Ich war dort drei Wochen, und das ist ebenso wirksam, als ob man dreitausend Jahre lebte, und alles lesen würde, was gedichtet und geschrieben ist, das behaupte ich, und das ist richtig. Ich habe alles gesehen, und ich weiß alles!«
»Die Poesie!« rief der gelehrte Mann, »ja, – sie ist oft Einsiedlerin in den großen Städten! Die Poesie! Ja, ich habe sie einen einzigen, kurzen Augenblick gesehen, aber ich hatte die Augen voll Schlaf! Sie stand auf dem Altan und leuchtete, wie das Nordlicht leuchtet. Erzähle, erzähle! Du warst auf dem Altan, Du gingst zur Thür hinein und dann – –!«
»Dann befand ich mich im Vorzimmer!« sagte der Schatten. »Sie saßen stets und sahen nach dem Vorgemach hinüber. Da war gar kein Licht, dort herrschte eine Art Dämmerung, aber in einer langen Reihe von Zimmern und Sälen standen die einander gegenüberliegenden Thüren offen; da war es erhellt, ich wäre vom Licht völlig erschlagen worden, wenn ich ganz bis zur Jungfrau hineingekommen wäre; aber ich war besonnen, ich nahm mir Zeit, und das muß man thun!«
»Und was erblicktest Du dann?« fragte der gelehrte Mann.
»Ich sah alles, und ich werde es Ihnen erzählen, aber – es ist durchaus kein Stolz von meiner Seite – als freier Mann und bei den Kenntnissen, die ich besitze, meine gute Stellung und meine ausgezeichneten Vermögensverhältnisse nicht zu erwähnen, so wünschte ich wohl, daß Sie mich Sie nennen möchten!«
»Ich bitte um Verzeihung,« sagte der gelehrte Mann, »es ist eine alte, eingewurzelte Gewohnheit! – Sie haben vollkommen recht und ich werde daran denken; aber nun erzählen Sie mir alles, was Sie gesehen haben.«
»Alles,« sagte der Schatten, »denn ich sah alles, und weiß alles!«
»Wie sah es in den innersten Sälen aus?« fragte der gelehrte Mann. »War es dort wie in dem frischen Walde? War es dort wie in einer Kirche? Waren die Säle wie der sternenhelle Himmel, wenn man auf den hohen Bergen steht?«
»Alles war da!« sagte der Schatten. »Ich ging ja nicht ganz hinein, ich blieb im vordersten Zimmer in der Dämmerung, aber da stand ich sehr gut, ich sah alles, und ich weiß alles! Ich bin am Hofe der Poesie im Vorgemach gewesen.«
»Aber was sahen Sie? Gingen durch die großen Säle alle Götter der Vorzeit? Kämpften dort die alten Helden? Spielten dort liebliche Kinder und erzählten ihre Träume?«
»Ich sage Ihnen, daß ich dort war, und Sie begreifen wohl, daß ich alles sah, was dort zu sehen war! Wären Sie hinübergekommen, so wären Sie nicht Mensch geblieben, aber das wurde ich, und zugleich lernte ich meine innerste Natur, mein Angeborenes, die Verwandtschaft, die ich mit der Poesie hatte, kennen. Ja, damals, als ich bei Ihnen war, dachte ich nicht darüber nach, aber immer, das wissen Sie, wenn die Sonne auf- und unterging, wurde ich so wunderbar groß, im Mondschein war ich fast noch deutlicher, als Sie selbst. Ich verstand damals meine Natur nicht, im Vorgemach der Poesie wurde es mir klar. – Ich wurde Mensch! – Reif ging ich daraus hervor, aber Sie waren nicht mehr in den warmen Länderr; ich schämte mich, als Mensch zu gehen, wie ich ging, ich bedurfte der Stiefel, der Kleider, dieses ganzen Menschenfirnisses, welches den Menschen kenntlich macht. – Ich suchte Schutz, ja, Ihnen sage ich es, Sie setzen es ja in kein Buch, ich suchte Schutz im Rock der Kuchenfrau, darunter versteckte ich mich. Die Frau dachte gar nicht daran, wieviel sie verberge; erst am Abend ging ich aus, ich lief im Mondschein auf der Straße herum, ich streckte mich lang gegen die Mauer, das kitzelte so schön den Rücken, ich lief hinauf und hinab, schaute durch die höchsten Fenster in die Säle und aufs Dach, ich sah hin, wohin niemand sehen konnte, und ich erblickte, was kein anderer sah, was niemand sehen sollte. Es ist im Grunde eine böse Welt! Ich möchte nicht Mensch sein, wenn es nicht einmal angenommen wäre, daß es etwas bedeute, es zu sein! Ich sah das Allerunglaublichste bei den Frauen, bei den Männern, bei den Eltern und bei den unvergleichlich lieben Kindern; – ich sah,« sagte der Schatten, »was kein Mensch wissen sollte, was sie aber alle so gern wissen möchten, das Böse bei den Nachbarn. – Hätte ich eine Zeitung geschrieben, die wäre gelesen worden! Aber ich schrieb gerade an die Personen selbst, und es entstand Schrecken in allen Städten, in die ich kam. Sie wurden bange für mich, und sie hatten mich außerordentlich lieb. Die Lehrer machten mich zum Lehrer, die Schneider gaben mir neue Kleider, ich bin gut versorgt; der Münzmeister schlug Münzen für mich, und die Frauen sagten, ich sei schön! – So wurde ich der Mann der ich bin, und nun sage ich Ihnen Lebewohl; hier ist meine Karte, ich wohne auf der Sonnenseite und bin bei Regenwetter immer zu Hause!« Damit ging der Schatten.
»Das war doch merkwürdig!« sagte der gelehrte Mann.
Es verstrichen Jahr und Tag, dann kam der Schatten wieder.
»Wie geht es?« fragte er.
»Ach!« sagte der gelehrte Mann, »ich schreibe über das Wahre, und das Gute, und das Schöne, aber niemand mag dergleichen hören, ich bin ganz verzweifelt, denn ich nehme mir das so zu Herzen!«
»Das thue ich nicht,« sagte der Schatten, »ich werde fett, und das muß man zu werden trachten! Ja, Sie verstehen sich nicht auf die Welt. Sie werden krank dabei. Sie müssen reisen! Ich mache im Sommer eine Reise, wollen Sie mitkommen? Ich möchte wohl einen Reisekameraden haben, wollen Sie als Schatten mitreisen? Es wird mir sehr viel Vergnügen machen, Sie mitzunehmen, ich bezahle die Reise!«
»Das geht zu weit!« sagte der gelehrte Mann.
»Das ist gerade, wie man es nimmt!« sagte der Schatten. »Eine Reise wird Ihnen außerordentlich wohl thun! Wollen Sie mein Schatten sein, so sollen Sie auf der Reise alles frei haben!«
»Das ist zu toll!« sagte der gelehrte Mann.
»Aber die Welt ist nun so,« sagte der Schatten, »und so bleibt sie auch!« und dann ging der Schatten.
Dem gelehrten Mann ging es gar nicht gut, Sorgen und Plagen verfolgten ihn; und was er über das Wahre, und das Gute und das Schöne sagte, das war für die meisten gerade wie die Rosen für eine Kuh! – Er ward zuletzt krank.
»Sie sehen wirklich wie ein Schatten aus!« sagten die Leute zu ihm, und es schauderte den gelehrten Mann, wenn er darüber nachdachte.
»Sie müssen in ein Bad reisen,« sagte der Schatten, der ihn zu besuchen kam, »da hilft nichts weiter! Ich will Sie aus alter Bekanntschaft mitnehmen, ich bezahle die Reise, und Sie machen die Beschreibung und belustigen mich ein wenig unterwegs! Ich will nach einem Bade, mein Bart wächst nicht hervor, wie er sollte, das ist auch eine Krankheit, und einen Bart muß man haben! Seien Sie nun vernüftig, und nehmen Sie mein Anerbieten an, wir reisen ja wie Kameraden!«
Und dann reisten sie, der Schatten war Herr, und der Herr war Schatten. Sie fuhren mit einander, sie ritten und gingen zusammen, Seite an Seite, vor und hintereinander, je nachdem die Sonne stand. Der Schatten wußte sich immer auf dem Herrenplatz zu halten, und das fiel dem gelehrten Manne nicht weiter auf; er war sehr gutmütig und sehr sanft und freundlich, und da sagte er eines Tages zum Schatten: »Da wir nun so Reisekameraden geworden, wie wir jetzt sind, und wir zugleich von der Kindheit an zusammen aufgewachsen sind, wollen wir da nicht Brüderschaft trinken? Das ist doch weit traulicher!«
»Sie sagen da etwas,« sagte der Schatten, welcher ja nun der eigentliche Herr war, »das ist recht gerade heraus und wohlgemeint gesprochen. Sie, als gelehrter Mann, wissen sicher, wie sonderbar die Natur ist. Manche Menschen können es nicht ertragen, graues Papier anzufassen, dann wird ihnen unwohl; andern geht es durch alle Glieder, wenn man mit einem Nagel gegen eine Glasscheibe reibt; ich habe ein eben solches Gefühl, wenn ich höre, daß Sie Du zu mir sagen, ich fühle mich gleichsam zu Boden gedrückt, wie in meiner ersten Stellung bei Ihnen. Sie sehen, es ist ein Gefühl, es ist nicht Stolz; ich kann Sie nicht Du zu mir sagen lassen, aber ich werde gern Du zu Ihnen sagen, dann ist die Hälfte Ihres Wunsches erfüllt!«
Und dann sagte der Schatten Du zu seinem früheren Herrn.
»Das ist doch wahrhaft toll,« dachte er, »daß ich Sie sagen muß, und er Du sagt!« aber nun mußte er aushalten.
Dann kamen sie nach einem Bade, wo viele Fremde waren, und unter diesen eine schöne Königstochter, welche die Krankheit hatte, daß sie allzu scharf sah, und das war höchst ängstlich.
Sie merkte sogleich, daß der, welcher angekommen war, eine ganz andere Person sei, als alle die andern. »Er ist hier, um seinen Bart zum Wachsen zu bringen, sagte man, aber ich erkenne die rechte Ursache, er kann keinen Schatten werfen.«
Sie war neugierig geworden, und daher ließ sie sich sogleich auf der Promenade mit dem fremden Herrn in ein Gespräch ein. Als Königstochter brauchte sie nicht viel Umstände zu machen, und deshalb sagte sie: »Ihre Krankheit ist, daß Sie keinen Schatten werfen können.«
»Ihre königliche Hoheit müssen sich bedeutend in der Besserung befinden!« sagte der Schatten. »Ich weiß, daß Ihr Übel darin besteht, daß Sie allzu scharf sehen, das hat sich aber verloren, Sie sind geheilt. Ich habe gerade einen ganz ungewöhnlichen Schatten! Sehen Sie nicht die Person, welche immer mit mir geht? Andere Menschen haben einen gewöhnlichen Schatten, ich liebe aber das Gewöhnliche nicht. Man giebt oft seinen Dienern feineres Tuch, als man selbst trägt, und so habe ich meinen Schatten zum Menschen aufputzen lassen! Ja, Sie sehen, daß ich ihm sogar einen Schatten gegeben habe. Das ist etwas Kostbares, aber ich liebe es, etwas für mich allein zu haben.«
»Was?« dachte die Prinzessin, »sollte ich mich wirklich erholt haben! Dieses Bad ist das beste von allen! Das Wasser hat in unserer Zeit ganz erstaunliche Kräfte. Aber ich reise nicht ab, denn jetzt wird es hier unterhaltend; der Fremde gefällt mir. Wenn nur sein Bart nicht wächst, denn sonst reist er ab!«
Am Abend in dem großen Ballsaal tanzten die Königstochter und der Schatten. Sie war leicht, aber er war noch leichter, einen solchen Tänzer hatte sie noch nie gehabt. Sie sagte ihm, aus welchem Lande sie sei, und er kannte das Land, er war dort gewesen, aber damals war sie nicht zu Hause gewesen, er hatte in die Fenster geschaut, sowohl oben wie unten, er hatte sowohl das eine wie das andere erblickt, und daher konnte er der Königstochter antworten und Andeutungen machen, daß sie ganz erstaunt wurde. Er mußte der weiseste Mann auf der ganzen Erde sein! Sie bekam große Achtung vor seinem Wissen, und als sie dann wieder tanzten, da wurde sie verliebt, und das konnte der Schatten recht gut merken, denn sie hätte ihn fast durch und durch gesehen. Dann tanzten sie noch einmal, und da war sie nahe daran, es zu sagen, aber sie war besonnen, sie dachte an ihr Land und an ihr Reich, und an die vielen Menschen, die sie zu regieren hatte. »Ein weiser Mann ist er,« sagte sie zu sich selbst, »das ist gut, und herrlich tanzt er, das ist auch gut. Ob er aber gründliche Kenntnisse hat, das muß untersucht werden.« Nun fing sie an, ihn nach etwas von dem Allerschwierigsten zu fragen, sie hätte es selbst nicht beantworten können, und der Schatten machte ein ganz sonderbares Gesicht.
»Das können Sie nicht beantworten!« sagte die Königstochter.
»Es gehört zu meiner Schulgelehrsamkeit,« sagte der Schatten, »ich glaube sogar, mein Schatten dort bei der Thür kann es beantworten!«
»Ihr Schatten,« sagte die Königstochter, »das würde höchst merkwürdig sein!«
»Ja, ich sage nicht mit Bestimmtheit, daß er es kann,« sagte der Schatten, »aber ich möchte es glauben, er ist mir nun viele Jahre lang gefolgt, und hat mich gehört, ich möchte es wohl glauben. Aber Ew. königliche Hoheit erlauben, daß ich Sie darauf aufmerksam mache, daß er so stolz ist, um für einen Menschen gelten zu wollen, daß er, wenn er bei guter Laune sein soll, und das muß er sein, um gut zu antworten, ganz wie ein Mensch behandelt werden muß.«
»Das gefällt mir!« sagte die Königstochter.
So ging sie zu dem gelehrten Mann bei der Thür, und sprach mit ihm von Sonne und Mond, und von den äußern und innern Menschen, und er antwortete klug und gut.
»Was muß das für ein Mann sein, der einen so weisen Schatten hat!« dachte sie. »Es würde ein wahrer Segen für mein Volk und Reich sein, wenn ich ihn zum Gemahl erwählte; – ich thue es!«
Und sie waren bald einig, sowohl die Königstochter wie der Schatten, aber niemand sollte davon etwas erfahren, bevor sie in ihr eigenes Reich zurück kam.
»Niemand, nicht einmal mein Schatten!« sagte der Schatten, und da hatte er nun seine eigenen Gedanken dabei! –
Dann kamen sie in das Land, wo die Königstochter regierte, wenn sie zu Hause war.
»Höre, mein guter Freund,« sagte der Schatten zu dem gelehrten Manne, »jetzt bin ich so glücklich und mächtig geworden, wie nur jemand sein kann, nun will ich auch etwas Außerordentliches für Dich thun. Du sollst immer bei mir auf dem Schlosse wohnen, mit mir in meinem königlichen Wagen fahren und jährlich hunderttausend Reichsthaler haben; aber dann mußt Du Dich von allen und jeden Schatten nennen lassen; Du mußt nicht sagen, daß Du je Mensch gewesen bist und einmal des Jahres, wenn ich auf dem Altan im Sonnenschein sitze, und mich sehen lasse, mußt Du zu meinen Füßen liegen, wie es einem Schatten gebührt! Ich will Dir sagen, ich heirate die Königstochter, heute soll die Hochzeit gefeiert werden.«
»Nein, das ist doch zu toll,« sagte der gelehrte Mann, »das will ich nicht, das thue ich nicht; das heißt das ganze Land betrügen und die Königstochter dazu! Ich sage alles, daß ich ein Mensch bin und daß Du ein Schatten bist, Du bist nur angekleidet!«
»Das glaubt niemand!« sagte der Schatten, »sei vernünftig, oder ich rufe die Wache!« –
»Ich gehe gerade zur Königstochter!« sagte der gelehrte Mann. »Aber ich gehe zuerst,« sagte der Schatten, »und Du gehst in das Gefängnis!« – und das mußte er, denn die Schildwachen gehorchten ihm, von dem sie wußten, daß die Königstochter ihn heiraten wollte.
»Du bebst,« sagte die Königstochter, als der Schatten zu ihr hineinkam, »ist etwas vorgefallen? Du mußt zu heute Abend nicht krank werden, jetzt, wo wir Hochzeit halten wollen.«
»Ich habe das Gräulichste erlebt, was man erleben kann!« sagte der Schatten, »denke Dir, – ja, solch ein armes Schattengehirn kann nicht viel aushalten, – denke Dir, mein Schatten ist verrückt geworden, er glaubt, er sei ein Mensch, und daß ich – denke nur – daß ich sein Schatten sei!«
»Das ist doch fürchterlich,« sagte die Prinzessin, »er ist doch eingesperrt?«
»Das ist er! Ich fürchte, er wird sich nie wieder erholen.«
»Der arme Schatten,« sagte die Prinzessin, »er ist sehr unglücklich; es ist eine wahre Wohlthat, ihn von dem bißchen Leben, was er hat, zu befreien, und wenn ich recht darüber nachdenke, so glaube ich, es wird notwendig sein, daß man es in aller Stille mit ihm abmacht!«
»Das ist freilich hart,« sagte der Schatten, »denn er war ein treuer Diener!« Und dann that er, als ob er seufzte.
»Sie sind ein edler Mann!« sagte die Königstochter.
Am Abend war die ganze Stadt erleuchtet, und die Kanonen gingen los: bum! – und die Soldaten präsentierten das Gewehr. Das war eine Hochzeit! Die Königstochter und der Schatten traten auf den Altan hinaus, um sich sehen zu lassen und noch einmal ein Hurra zu bekommen.
Der gelehrte Mann hörte nichts von diesen Herrlichkeiten – denn ihm hatten sie das Leben genommen.